Entscheidungsbxefugten Sachbearbeitern der Finanzverwaltung müssen grundlegende Entscheidungen des Bundesfinanzhofes (BFH), gerade wenn sie der bisherigen Verwaltungspraxis widersprechen, zeitnah zur Kenntnis gebracht werden (u. a. durch Zeitschriften-Umlauf, Besprechungen, elektronische Information). Erfolgt dies nicht, liegt im Regelfall ein Organisationsverschulden vor und nach Amtshaftungsgrundsätzen kann Ersatz für die Rechtsanwalts- oder Steuerberaterkosten im – unnötigen – Einspruchsverfahren verlangt werden.
Sachverhalt:
Der Kläger verlangt von dem beklagten Land im Wege der Amtshaftungsklage die Erstattung von Steuerberaterkosten, die ihm im Einspruchsverfahren nach der Abgabenordnung entstanden sind.
In den Jahren 1979/80 erwarb der Kläger drei nebeneinander liegende Gebäude in K., die zunächst teils gewerblich und teils zu Wohnzwecken genutzt wurden. Nach umfangreichen Umbaumaßnahmen in der Zeit von Anfang 1990 bis 1992 und der Aufteilung in Eigentumswohnungen veräußerte der Kläger in den Jahren 1990 zwei Eigentumswohnungen und im Februar 1993 eine weitere Eigentumswohnung. Im Oktober 1999 erfuhr die Oberfinanzdirektion D. bei einer Steuerprüfung vom Verkauf einer vierten Eigentumswohnung im Juli 1995. Die Steuerakten des Klägers wurden seit Juli 1999 bei dem Finanzamt N. geführt. In der ersten Dezemberhälfte des Jahres 1999 erhielt das Finanzamt N. von dem früher zuständigen Finanzamt … zahlreiche weitere Akten des Klägers und seiner Ehefrau auch zur Problematik ,,gewerblicher Grundstückshandel“.
Wegen drohenden Verjährungseintritts erließ der zuständige Sachbearbeiter des Finanzamts N. nach § 175 Abs. 1 Nr. 2 AO geänderte Einkommensteuerbescheide für die Jahre 1990 bis 1993, Gewerbesteuerbescheide für die Jahre 1991 bis 1993 sowie geänderte Bescheide für die Feststellung des verbleibenden Verlustabzugs zum 31.12.1991 und 31.12.1993. Grundlage der Bescheide war die Annahme, der Verkauf der vierten Wohnung im Juli 1995 sei als rückwirkendes Ereignis i. S. d. § 175 Abs. 1 Nr. 2 AO zu werten. Nachdem der Kläger durch seinen Steuerberater am 30.12.1999 Einspruch gegen die Bescheide eingelegt hatte, hob das Finanzamt N. am 22.2.2000 die angefochtenen Bescheide auf.
Der BFH hatte durch Urteil vom 6.7.1999 entschieden, dass die Veräußerung eines vierten Objekts für die Frage des gewerblichen Grundstückshandels kein rückwirkendes Ereignis des § 175 Abs. 1 Nr. 2 AO sei (BFH BB 1999, 2232 ff.). Dieses Urteil wurde am 23.10.1999 in der Zeitschrift ,,Deutsches Steuerrecht“ veröffentlicht, die beim Finanzamt N. am 26.10.1999 vorlag. Im Umlaufverfahren wird diese Zeitschrift lediglich den Sachgebietsleitern, den Mitarbeitern der Rechtsbehelfsstelle und der Abteilung Betriebsprüfung, nicht aber den Sachbearbeitern zur Verfügung gestellt.
Die Berufung des beklagten Landes ist unbegründet.
Aus den Gründen:
Der Kläger hat gem. § 839 i. V. m. Art. 34 GG einen Anspruch auf Ersatz des Schadens, der ihm durch die Tätigkeit der Steuerberatungs-GmbH Z. im Einspruchsverfahren entstanden ist.
Durch den Erlass der Steuerbescheide vom 17.12.1999 hat der zuständige Sachbearbeiter des Finanzamts N. seine Amtspflicht zu rechtmäßigem Verhalten verletzt.
Hinsichtlich der Jahre 1990 bis 1992 war der Erlass der Bescheide vom 17.12.1999 schon deshalb nicht mehr zulässig, weil die vierjährige Festsetzungsfrist gem. § 169 Abs. 1, Abs. 2 Nr. 2 AO bereits abgelaufen war.
Die Bescheide vom 17.12.1999, die die Veranlagung für das Jahr 1993 betreffen, waren ebenfalls rechtswidrig. Zwar begann wegen der Abgabe der Einkommenssteuererklärung für das Jahr 1993 am 1.2.1995 die vierjährige Festsetzungsfrist erst mit Ablauf des Jahres 1995 zu laufen, so dass am 17.12.1999 noch keine Festsetzungsverjährung eingetreten war.
Der Verkauf der vierten Eigentumswohnung im Juli 1995 kann auch grundsätzlich als nachträglich bekannt gewordene Tatsache gewertet werden, die zur Änderung eines Steuerbescheides i. S. d. § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO berechtigt. Eine nachträglich bekannt gewordene Tatsache liegt dann vor, wenn sie bereits bei Erlass des ursprünglichen Bescheides vorhanden war; erst nachträglich eintretende Tatsachen führen nicht zu einer Änderungsbefugnis nach § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO (Rüsken in Klein, AO, 7. Aufl., § 173 AO Rz. 48). Der ursprüngliche Einkommenssteuerbescheid für das Jahr 1993 wurde am 11.6.1999 erlassen. Der Verkauf der vierten Eigentumswohnung erfolgte bereits früher, nämlich im Juli 1995. Er wurde allerdings erst nach Erlass des Einkommenssteuerbescheides im Oktober 1999 bekannt.
Nach Auffassung des Senats liegt jedoch auch unter Berücksichtigung des letzten Verkaufs kein gewerblicher Grundstückshandel vor. Nach § 15 Abs. 2 EStG setzt das Vorliegen eines Gewerbebetriebs eine selbstständige nachhaltige Betätigung voraus, die mit Gewinnabsicht unternommen wird und sich als Beteiligung am allgemeinen wirtschaftlichen Verkehr darstellt. Von einem gewerblichen Grundstückshandel kann ausgegangen wenn innerhalb eines überschaubaren Zeitraums von i. d. R. fünf Jahren mehr als drei Objekte veräußert werden. Bei Beurteilung des zeitlichen Zusammenhangs sind Errichtung, Erwerb und Modernisierung auf der einen Seite und die Veräußerung der Objekte auf der anderen Seite zu bewerten (vgl. zu den Einzelheiten Schreiben des BMF betr. Abgrenzung zwischen privater Vermögensverwaltung und gewerblichem Grundstückshandel vom 20.12.1990 [BStBI. I 1990, 884], geändert durch Schreiben des BMF vom 9.7.2001 [BStBI. I 2001, 512]). Nach der Rechtsprechung des BFH (vgl. zuletzt BFH, Beschl. v. 10.12.2001 – GrS 1/98, NJW 2002, 1518 ff.) haben die Zahl der Objekte und der zeitliche Abstand der maßgebenden Tätigkeiten allerdings nur indizielle Bedeutung und kommen dann nicht zum Tragen, wenn sich bereits aus anderen – ganz besonderen – Umständen zweifelsfrei eine von Anfang an bestehende oder aber fehlende Veräußerungsabsicht ergibt. Solche weiteren Umstände können beispielsweise dann vorliegen, wenn ein branchenkundiger Steuerpflichtiger innerhalb eines Zeitraums von fünf Jahren nach Errichtung eines Gebäudes weniger als vier, danach aber in relativ kurzer Zeit planmäßig weitere Objekte veräußert (Rz. 10 des Schreibens betreffend Abgrenzung zwischen privater Vermögensverwaltung und gewerblichem Grundstückshandel vom 20.12.1990 [BStBI. I 1990, 884], unter Hinweis auf ein Urt. des BFH v. 5.9.1990 – BStBI. II 1990, 1060).
Nach diesen Grundsätzen ist vorliegend nicht von einem gewerblichen Grundstückshandel auszugehen. Folgte man der Auffassung des beklagten Landes, dass die 5-Jahres-Frist erst mit Ende der Umbauarbeiten im Jahr 1992 zu laufen beginnen würde, hätte dies zur Folge, dass die beiden Verkäufe im Jahr 1990 nicht mitgezählt werden dürften und deshalb keine Veräußerung von mehr als drei Objekten innerhalb des 5-Jahres-Zeitraums vorliegen würde. Nach Auffassung des Senats ist es sachgerecht, auf den Beginn der Umbauarbeiten Anfang des Jahres 1990 abzustellen. Zwischen den Parteien ist unstreitig, dass die 5-Jahres-Frist bei dem Verkauf der vierten Eigentumswohnung nur um wenige Monate überschritten wurde. Allein dies reicht aber schon aus Gründen der Rechtssicherheit zur Annahme eines gewerblichen Grundstückshandels nicht aus. Dass es sich bei dem Kläger um einen ,,branchenkundigen Steuerpflichtigen“ handeln würde, hat das beklagte Land nicht dargelegt. Der Kläger betreibt ein Herrenausstattungsgeschäft; für eine nebenberufliche Tätigkeit auf dem Grundstücksmarkt bestehen keine Anhaltspunkte. Gegen einen von Beginn an bestehenden gewerblichen Betätigungswillen spricht schließlich, dass der Kläger in der Einspruchsbegründung unwidersprochen vorgetragen hat, dass ursprünglich eine Selbstnutzungs- bzw. Vermietungsabsicht vorgelegen habe und die Veräußerungen aufgrund einer Verschlechterung der wirtschaftlichen Lage, insb. hervorgerufen durch die Trennung und Scheidung des Klägers und seiner Ehefrau, notwendig geworden seien.
Der Erlass der Bescheide vom 17.12.1999 beruhte auf einer fahrlässigen Amtspflichtverletzung.
Für die Beurteilung des Verschuldens i. S. d. § 839 BGB gilt ein objektiv-abstrakter Sorgfaltsmaßstab. Danach kommt es auf die Kenntnisse und Einsichten an, die für die Führung des übernommenen Amtes im Durchschnitt erforderlich sind, nicht aber auf die Fähigkeiten, über die der Beamte tatsächlich verfügt. Dabei muss jeder Beamte die zur Führung seines Amts notwendigen Rechts- und Verwaltungskenntnisse besitzen oder sich diese verschaffen. Ein besonders strenger Sorgfaltsmaßstab gilt für Behörden, die wie die Finanzämter durch den Erlass von Bescheiden selbst vollstreckbare Titel schaffen. Eine objektiv unrichtige Gesetzesauslegung oder Rechtsanwendung ist schuldhaft, wenn sie gegen den klaren und eindeutigen Wortlaut der Norm verstößt oder wenn aufgetretene Zweifelsfragen durch die höchstrichterliche Rechtsprechung, sei es auch nur in einer einzigen Entscheidung, geklärt sind (Tremml/Karger, Der Amtshaftungsprozess, Rz. 162, 165, 169; Detterbeck/Windthorst/Sproll, Staatshaftungsrecht, Rz. 182; BGH v. 24.11.1988 – III ZR 86/88, VersR 1989, 184; v. 19.12.1991 – III ZR 9/91, NJW-RR 1992, 919).
Nach diesen Maßstäben ist von einem fahrlässigen Verhalten auszugehen. Die Voraussetzungen des gewerblichen Grundstückshandels waren in der Rechtsprechung hinreichend geklärt. Zwar war es wegen der relativ geringfügigen Überschreitung des 5-Jahres-Zeitraums grundsätzlich denkbar, dass besondere Umstände vorliegen könnten, die die Annahme eines gewerblichen Grundstückshandels des Klägers rechtfertigen könnten. Der zuständige Beamte handelt jedoch schuldhaft, wenn er wegen des drohenden Ablaufs der Festsetzungsfrist ohne weitere Prüfung einen von Anfang an bestehenden gewerblichen Betätigungswillen annimmt.
Der Erlass der Bescheide für die Jahre 1990 bis 1992 ist auch dann als fahrlässig zu bewerten, wenn der zuständige Sachbearbeiter wegen der fehlenden Kenntnis des Urteils des BFH vom 6.7.1999 nach bestem Wissen gehandelt hat. Im Rahmen des § 839 BGB gilt nämlich ein objektivierter und entindividualisierter Verschuldensmaßstab. Das Verschulden wird danach nicht mehr auf eine einzelne zu konkretisierende Person bezogen, sondern dem mangelnden oder schlechten Funktionieren des Verwaltungsapparates selbst zugerechnet. Die Anerkennung der Rechtsfigur des Organisationsverschuldens trägt dem Umstand Rechnung, dass sich der Bürger einem für ihn anonymen Verwaltungsapparat gegenübersieht, dessen stark differenzierte Arbeits- und Funktionsweise er von außen nicht durchschauen kann (Tremml/Karger, Der Amtshaftungsprozess, Rz. 166 ff.; Ossenbühl, Staatshaftung, 5. Aufl., S. 77; BGH v. 7.12.1995 – III ZR 141/94, MDR 1996, 1017 = NVwZ 1996, 512 [515]; v. 21.2.1991 – III ZR 245/89, BGHZ 113, 367 [371 f.] = MDR 1991, 1144).
Von einem solchen Organisationsverschulden innerhalb des Finanzamts N. ist vorliegend auszugehen. Die Zeitschrift, in der das Urteil des BFH vom 6.7.1999 abgedruckt ist, stand im Finanzamt seit dem 26.10.1999 zur Verfügung. Nach dem eigenen Vorbringen des beklagten Landes handelt es sich um eine grundsätzliche Entscheidung, die der bisherigen Verwaltungspraxis widersprach. Bei dieser Sachlage musste innerhalb des Finanzamts sichergestellt werden, dass die Entscheidung in angemessener Zeit, jedenfalls bis zum 17.12.1999, auch den zuständigen Sachbearbeitern zur Kenntnis gebracht wurde.
Von den zuständigen Beamten des Finanzamts ist zu entscheiden, auf welche Weise diese zeitnahe Unterrichtung erfolgen soll. In Betracht kommen insb. Umläufe bei den Sachbearbeitern, regelmäßige Dienstbesprechungen mit den Sachgebietsleitern oder Information unter Zuhilfenahme der PCs. Durch die Besetzung der Einspruchsstelle mit juristisch qualifizierten Mitarbeitern genügte das beklagte Land seiner Organisationspflicht schon deshalb nicht, weil durch das Einspruchsverfahren weitere vermeidbare Kosten entstehen können.
Wegen des Organisationsverschuldens innerhalb des Finanzamts N. kann offen bleiben, ob die Finanzverwaltung ihre Pflicht zur zeitnahen Information der Finanzämter über aktuelle höchstrichterliche Rechtsprechung verletzt hat. Es kommt auch nicht mehr darauf an, ob diese Pflicht drittgerichtet ist oder lediglich der Durchführung einer gleichmäßigen Besteuerung dient (vgl. insoweit LG Nürnberg-Fürth, Urt. v. 16.3.1994 – 4 O 188/93, zitiert bei Nissen, BB 1995, 649 [652]).
Die Kosten des Steuerberaters im Einspruchsverfahren stellen nach gefestigter Rechtsprechung einen im Rahmen der Amtshaftung ersatzfähigen Schaden dar, auch wenn nach der Abgabenordnung eine Erstattung der Kosten des Einspruchsverfahrens ausgeschlossen ist (BGHZ 21, 359 ff.; OLG München BB 1979, 335 f.; OLG Frankfurt BB 1981, 228 f.; BGH NJW 1975, 972 ff.; Rüsken in Klein, AO, 7. Aufl., § 32 AO Rz. 9).
Fundstelle:
OLG Koblenz, Urteil vom 17.07.2002
Aktenzeichen: 1 U 1588/01 (LG Koblenz – 5 O 400/00)